"Das Leben versagt sich keinem"Rückblick auf die Zeit meiner Hospizarbeit

Es ist Dienstag, der 30. Juni. Ich stehe in Alterlaa an der Busstation des 66 A. Eine Stimme aus dem Lautsprecher wirbt um Verständnis, dass „wegen erhöhtem Verkehrsaufkommen die Linie nur unregelmäßig verkehrt“. Das schafft mir die Gelegenheit, kurz innezuhalten auf dem Weg ins Tageshospiz. Dort werde ich heute meinen Dienst als Seelsorger im Mobilen Hospiz der Caritas beenden.

Es waren lebensintensive, fruchtbare 16 Jahre. Sie waren erfüllt von Begegnungen und Erfahrungen, die schwer ins Wort zu bringen sind. Aber ich habe im Hospiz gelernt, das Sprechen zu relativieren. Viele der Menschen, denen ich in ihrem Sterben und in ihrer Trauer begegnen durfte, haben mir mehr zu sagen gehabt, als ich ihnen sagen konnte.

Kostbarster Unterricht an Sterbebetten

Bei Hilde Domin fand ich den mir so wichtig gewordenen Vers (in ihrem Gedicht „Unterricht“): „Jeder der geht, belehrt uns ein wenig über uns selber. Kostbarster Unterricht an Sterbebetten“. Mehr braucht dazu nicht gesagt werden. Ein zweites Wort, eines von Christine Busta, ist mir zur Chiffre dafür geworden, worüber ich „belehrt“ wurde: „Welch ein Irrtum zu glauben,/ das Leben sei da, uns gerecht zu werden./ Es ist ein Geschenk,/ dem wir erst gerecht werden müssen. / Das Leben versagt sich keinem./ Nur wir versagen uns ihm - viel zu oft“. - Christian Bargehr SJ hat eine Karte mit diesem Text gestaltet.

Dann bin ich in diesen Jahren, im Alltag der Arbeit, bei Aus- und Fortbildungen, bei Seminaren und Vorträgen unzähligen Menschen begegnet, Kolleginnen und Kollegen in der Hospizarbeit. Sie haben mich erfahren lassen, was Heinrich Pera, der deutsche Hospizpionier, dem ich so viel verdanke, unermüdlich wiederholt hat: „Hospizarbeit kannst du nur in einem Team machen!“ Durch sie hat sich sein Wort bewahrheitet.

Nur im Team

Die Sorge um unsere PatientInnen (ihre betreuenden Angehörigen eingeschlossen) und das Team sind für mich klare Prioritäten meines Einsatzes geworden. Sie haben auch wesentlich meine Erfahrung als Seelsorger in einem interprofessionellen Team geprägt. In der Zeit meiner Hospizarbeit war ich zum ersten Mal im strengen Sinn des Wortes „Mitarbeiter“. Ich war eingebunden in die Struktur der Caritas und der Erzdiözese Wien, einer/m TeamleiterIn unterstellt und einer diözesanen Stabstelle zugeordnet. Das war mir auch wichtig. Ich wollte zuerst einmal Kollege unter KollegInnen sein. Es hat mir geholfen, meine Rolle und meinen Platz im Team zu finden. Jetzt, beim Abschied, durfte ich dankbar erfahren, wie positiv das von vielen Teammitgliedern und PatientInnen erlebt wurde.

Der Stellenwert, der heute innerhalb der Caritas Wien der Trauerbegleitung eingeräumt wird, gehört auch ein Stück weit zu den Früchten dieser Jahre. Gemeinsam mit anderen, nicht zuletzt Christian Metz, habe ich einige Jahre viel Zeit und Kraft darauf verwendet. Ein vielfältiges Angebot dazu - in der Praxis wie im Bereich der Aus- und Fortbildung - ist heute selbstverständlich etabliert.

Nicht zuletzt durfte ich das Tageshospiz mitbegründen. Es ist mir in all den Jahren immer wichtiger geworden. Dass es gegen alle Prophezeiungen „überlebt“ hat, jetzt eigene Räume besitzt und von der Anzahl der Öffnungstage expandiert, gehört zu den großen Freuden, die ich erleben durfte. Natürlich gab es auch Ärger und Frust in 16 Jahren. Aber jetzt bin ich unterwegs, ins Tageshospiz. Dort werde, will ich meinen „letzten Arbeitstag“ beschließen. Und das wäre kein Grund, sich zu freuen? Da kommt auch schon der 66 A.

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